Flug-Fernreisen: Warum plane ich eine Fernreise und ist es wirklich meine freie Entscheidung oder lasse ich mich von klugen Marketingstrategen und der Gesellschaft maßgeblich
beeinflussen?
Ein mobiler Lebensstil wird meist positiv bewertet. Denn wer viel reist, gilt als weltverbunden und genießt hohes Ansehen. Auch die tiefen Flugpreise treiben das Viel- und Fernfliegen an.
Fragt man Fernreisende warum sie diese lange Reise unternehmen, erhält man häufig Gründe genannt wie
- ich brauche eine Auszeit
- ich möchte mir etwas gönnen
- das habe ich mir schon immer gewünscht
- mein Traumziel
- ich möchte das Land und die Kultur kennen lernen
Wir finden - bevor man sich dazu entschließt eine Fernreise zu buchen - kann man sich zunächst folgende Fragen stellen:
- Was ist meine tatsächliche Motivation für diese weite Reise?
- Was soll die Reise bewirken?
- Ist es auf den Malediven wirklich erholsamer als an der Ostsee?
- Ist es meine eigene Sehnsucht oder wurde ich beeinflusst?
- Brauche ich wirklich eine Auszeit, was ist überhaupt eine Auszeit, ist es vielleicht eine Flucht, ein „Entrinnen“, gibt es überhaupt eine „Auszeit“ und was soll sie bewirken, woher
kommt der Drang danach?
- Was heißt es „sich etwas zu gönnen“ und was bringt es mich weiter? Ist es vielleicht ein Substitut?
- Ist diese Reise wirklich ein Herzenswunsch oder ist dieser beeinflusst von äußeren Faktoren… Freunde, Neid, mithalten wollen, falsch verstandene „me time“?
- Was ist überhaupt ein Traumziel- ist es „örtlich“ verknüpft?
- Ist es mir ein inneres Bedürfnis vorbehaltlos in andere Kulturen einzutauchen?
- Kann es auch Ablenkung sein?
- Bin ich bereit wirkliche alle Seiten einer ganz anderen Kultur kennen zu lernen und mit zu erleben, mit allem was daran hängt - Armut, befremdliche Sitten? Will ich wirklich daran
teilhaben oder will ich nur „gucken“?
Zu letzterem Punkt möchte ich noch ein kleines Beispiel aus meinen eigenen Reiseerlebnissen erzählen.
Als ich vor vielen Jahren nach Kuba reiste, lernte ich im Flugzeug eine junge Frau kennen, die ebenfalls zu einem Aufenthalt von drei Wochen nach Kuba unterwegs war. Sie hatte den
Aufenthalt in einem Resort - all inklusiv gebucht, während ich über Freunde eine Privatunterkunft in einer Familie vermittelt bekommen hatte. Zwei unterschiedliche Konzepte. Auf dem
Rückflug trafen wir uns wieder und erzählten uns von der Zeit auf dieser wunderbaren Insel. Der Unterschied in dem Erleben und Wahrnehmen von Landschaft, Mensch und Kultur hätte nicht
größer sein können. Ein außenstehender Zuhörer hätte nicht vermutet, dass wir auf der gleichen Insel waren.
Einige Redewendungen, die zum Nachdenken anregen...
Redeweisen, die ausdrücken, wie der Verzicht auf Überflüssiges befreien kann, können neue Perspektiven eröffnen bzw. umweltschonende wachhalten:
- Warum in die Ferne schweifen, wenn das Glück so nah liegt?
- So regional wie möglich, so global wie nötig.
- Weniger ist mehr.
oder ein Slogan von einer Friday-for-Future-Demonstration:
- Die billigen Flugpreise werden uns teuer zu stehen kommen.
Der Lockruf - wie uns die Sprache der Reiseveranstalter unbewusst beeinflusst...
Wie die Reiseveranstalter uns mit Lockwörtern die etwas in uns auslösen, ködern. Dies sind Wörter, die über verschiedenste soziale Gruppen hinweg positive Emotionen wachrufen, das
Bezeichnete aufwerten und so als ‹Lockvögel› – als „Pull-Faktoren“ – wirken.
Paradies
- „Das Paradies ganz nah“ - weisse Sandstrände, türkisfarbenes Meer, ganzjähriger Sonnenschein und konstante Wärme
Traum
-
traumhafte Inseln und Strände
- Der Name sagt es schon: Wer am Bürotisch sitzt und sich nach weißem Sandstrand und türkisblauem Meer sehnt, kann sich hier eine kurze Verschnaufpause vom Arbeitsalltag gönnen. In
fernen Ländern gibt es Strände zum Träumen.
- Wärme tanken und dem Hudelwetter entfliehen, aber bitte mit einem gewissen Etwas.
Wunder
- prächtige Naturwunder
-
Wunderschöne Korallenriffe
- Antike Wunderstätte
Märchen, Sagen
- magisch-märchenhafte Inseln
- sinnlich, sagenhaft
-
Märchenhaft intensive Meeresfarben, eine leichte Brise und Sonnenstrahlen bildeten die perfekte Kulisse für das Zusammenspiel der Elemente.
Magie
-
magisch-märchenhafte Malediven
-
magisches Erlebnis: Bälle schlagen unter dem Nordlicht
Perlen, Juwelen, Schlaraffenland
- Die Perlen der Malediven erhalten ein neues Prunkstück.
- Design-Juwel im Grünen
- Ein Buffet wie im Schlaraffenland
Die Ausdrücke Paradies, Traum, Wunder, Magie sowie Märchen und ihre Abwandlungen wie paradiesisch, traumhaft, wunderbar, magisch und märchenhaft kennzeichnen Bereiche, in denen die
physikalische Realität außer Kraft gesetzt erscheint. Hier gelten nicht mehr die Regeln der Alltags- und Arbeitswelt, hier herrschen reines Gefühl und intensives Erleben. Die Lockwörter
verweisen auf eine fiktive Welt, in der Wohlleben und Glück herrschen. Sie suggerieren, dass wir mit dem Wechsel in die Urlaubswelt in einen quasi religiösen Raum, eine Art weltliches
Jenseits eintreten. Entscheidend ist, dass fernliegende Orte mit der Erfahrung des Anderen (z.B. des Wunderbaren) verknüpft werden.
Natürlich sind Ausdrücke wie Paradies in Wörtern wie Ferienparadies nicht wörtlich gemeint. Die Urlaubswelt verspricht ein metaphorisches Paradies bzw. Wunder. Dennoch aktivieren diese
Wörter in unseren Köpfen Gedanken, die den ursprünglichen Gehalt des Irrealen und Magischen aufruft. Egal, wie wörtlich wir die oben genannten Lockwörter nehmen: Im Zusammenhang der
Reise-Werbung und Berichterstattung bilden sie einen Gegensatz zum Alltag und zur Realität und suggerieren SEHNSUCHT.
Mit negativen Zuschreibungen wie Winterblues charakterisiert die untersuchte Reisesprache beiläufig auch den Alltag. Wo Termine den Tagesablauf takten, fehlt Raum für Überraschendes und
für das, was Reiseberichte als Erlebnis oder Abenteuer preisen. Dem Urlaub gegenüber regiert meist Begeisterung und Überschwang. Der Alltag dagegen ist düster, kalt und eng und wird als
drückendes Zeitkorsett erfahren. Hier herrschen Schwermut («Blues») und eine gefasste Haltung. Mit seinem beiläufigen Blick auf den Alltag legt die Fernreisewerbung damit auch das fest,
wovon sie Linderung verspricht. Bei dir regt sich in Anbetracht herbstlicher Temperaturen und nebliger Tage der Wunsch, ins Flugzeug zu steigen und an die Wärme zu fliegen? Sonne, Strand,
keine Termine – so fühlt sich Glück an.
SIE KONSTRUIERT DEN ALLTAG DERART NEGATIV, DASS DIE FLUCHT IN EINE POSITIVE GEGENWELT IN ÜBERSEE FAST ZWINGEND ERSCHEINT.
Im Urlaub ein anderer Mensch sein?
Kulturwissenschaftliche Studien legen nahe, dass heute viele UrlauberInnen auf ihren Reisen eine Selbstverwandlung suchen. Mit dem Ortswechsel wollen sie auf Zeit aus ihren gewohnten
Leben ausbrechen und ein anderer oder eine andere sein. Ein 34-jähriger norwegischer Tourist drückt das Ausschalten des Alltagsverstandes im Urlaub so aus: „… because when you’re on holiday you’re in a different mode. You are somewhere else and you want to get the most out of it and go home and be
filled with impressions and experiences." (Cohen, Higham, Reis 2013, 991)
Dass Urlaubsreisen Menschen in einen «anderen Modus» versetzen können, bestätigen auch unsere linguistischen Befunde. Die Gegenüberstellung von Märchenwelt, Paradies, Traum und Magie
einerseits und drückendem Alltag andererseits entsprechen zwei voneinander getrennten Identitäten. Psychologisch gesprochen gehören Alltags- und Urlaubswelt unterschiedlichen Ichs an,
zwischen denen kaum noch Vernunftbrücken bestehen (wie es etwa ein Bezug auf Erholung wäre). Ein Beispiel kann dies illustrieren:
Eine Reisekampagne wirbt mit dem Slogan: Ferien, in denen man alles vergisst. Hier werden nicht etwa schöne Ferienlandschaften, üppiges Essen oder Ruhe versprochen, hier greift das
Versprechen tief in den Seelenhaushalt der Reisenden ein. Versprochen wird eine innere Verwandlung, die das Zuhause, die Arbeitswelt, aus dem Bewusstsein verdrängen soll.
Auffällig ist, dass der Wechsel zwischen Alltag und Urlaub nicht als fließender Übergang, sondern als scharfer Kontrast entworfen wird. Glaubt man den Reiseverheißungen, so sind Alltag
und Urlaub strikt voneinander getrennt - aber wer sagt das und ist es die Wahrheit? Überspitzt gesagt: Menschen sitzen in diesen Texten entweder im Alltag am Bürotisch oder sie liegen auf
den Malediven am Traumstrand.
Was wird wohl die Reaktion sein - natürlich will ich auf lieber auf den Malediven sitzen und nicht im Büro. Somit wird die Realität schlecht geredet und der Urlaub wird zum Heilsbringer…
Aber: ist der Erholungswert zum Beispiel an der Ostsee geringer als der auf den Malediven?
Der Schnäppcheneffekt
Kein Reisebericht, keine Fernreisewerbung bietet Angaben zur Anzahl der Kilometer, die zwischen dem Zuhause und dem fernen Reiseziel liegen, geschweige denn zur CO2-Belastung, welche die
Reise mit sich führt. Nicht selten nennt die Werbung bloß das Reiseziel und den Preis, der dorthin führt.
Beispiele:
- Eine Woche Zypern ab Fr. 599.-
- Vietnam: nonstop ab Fr. 549.- Nur für kurze Zeit reduziert.
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Der Schnäppchencharakter solcher Angebote rückt die Ferienreise in den Kreis jener Konsumgüter, die man weniger kauft, weil man sie braucht, sondern weil sie gerade billig zu haben sind.
Allein die Darbietungsform des «Greif-schnell zu» lädt ein zum schnellen Konsum und zur Rettung aus dem grauen Alltag. Dass die Reise zur gebuchten Destination unter Umständen um die
halbe Erde führt, gerät dadurch aus dem Blick.
Rückt die geografische Seite der Reise aus dem Blick, so wird auch die Kerosinbelastung durch die Flugreise unsichtbar.
Zusammenfassung und Folgerungen
Viele touristische Fernreisen versprechen einen irrationalen Bruch mit dem Alltags-Ich und seinen Verantwortlichkeiten. Sie befriedigen das tiefsitzende Bedürfnis vieler Menschen, auf
Zeit ein ‹Anderer› oder eine ‹Andere› zu sein. Viele suchen auf Fernreisen die Erfahrung, etwas Authentisches, Intensives zu erleben, auch etwas, das sich als Trophäe (Erzählung, Fotos
etc.) vorzeigen lässt. Dass solche Erfahrungen auch zu Hause bzw. in der Nähe möglich wären, schließen Reisewerbung und Reiseberichterstattung meist aus. Auch die riesigen Distanzen und
den damit verbundenen Verbrauch fossiler Energie machen sie unsichtbar.
Welche Empfehlungen lassen sich aus diesen Beobachtungen für staatliche Führungsstellen, NGOs, Unternehmungen und Bürgerinnen und Bürger ableiten, die einen suffizienteren Umgang mit
Reisen fördern wollen?
Distanzen und ökologischer Fußabdruck
Würde man Werbeanzeigen für Fernreisen mit Angaben über Distanzen und CO2-Ausstoß versehen, ließe sich die Distanzblindheit vieler Reisenden
vermindern. Eine gesetzliche Deklarationspflicht des C02-Ausstosses der Tourismusindustrie könnte Ähnliches bewirken – nach dem Vorbild der
Schadstoff-Deklarationen auf den Zigarettenpackungen. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) gehen bereits den umgekehrten Weg: Sie zeigen beim Internetkauf einer Fahrkarte die
CO2-Reduktion an, die man mit der gebuchten Fahrt im Vergleich zu einer Autofahrt gewinnt.
CO2-Steuern und Codes für maßvolles Fliegen einführen
Die erwähnten Berechnungen zu zulässigen CO2-Mengen bieten einen Maßstab für einen suffizienten Ressourcenverbrauch. Ihre Anwendung könnte einen
Realitätssinn in ein Gebiet zurückbringen, in dem menschliches Handeln, unterstützt durch eine Sprache des Maßlosen, aus dem Ruder gelaufen ist. Praktisch hieße dies, dass Regierungen
über Steuern Obergrenzen des CO2-Ausstoßes festlegen. Weiter könnten Behördenmitglieder in ihrem Fliegen dazu verpflichtet werden, bestimmte Codes
einzuhalten und damit einen Verhaltensmaßstab für alle setzen.
Alltag und Nahraum aufwerten
Die Verheißung eines Fernurlaubs als Traum und Paradies wertet die Nahwelt systematisch ab. Das Versprechen von Erlebnissen an fernen Stränden suggeriert, dass das Zuhause weder
Erlebnisse noch Abenteuer birgt und einem Zustand lebloser Routine gleicht. Bemühungen um CO2-ärmeres Verhalten könnten daher das Zuhause und die
unmittelbare Umgebung vermehrt als Raum für Entdeckungen und Erlebnisse aufzeigen.
Wir meinen: Eine sinntragende Arbeit, ein erfüllendes Sozialleben, ein höheres Bewusstsein und kreative Tätigkeiten können viel vom dem einlösen, was die
Reisewerbung mit viel Überschwang auf ferne Strände projiziert.
Literaturverzeichnis
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- Stengel, Oliver (2011). Suffizienz: Die Konsumgesellschaft in der ökologischen Krise. Wuppertal: Oekom.
- sprachkompass.ch 2021